Blatt-Gold interviewt die Theatergruppe Mittendrin
„Behinderung ist uns wurscht!“

Gleich geht das Theater los - Blatt-Gold wartet gespannt auf die inklusive Theatergruppe Mittendrin. Die Frau mit dem roten Schal, die so nett lacht, ist Nicola Glück. Sie ist die künstlerische Leitung.   | Foto: Blatt-Gold
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  • Gleich geht das Theater los - Blatt-Gold wartet gespannt auf die inklusive Theatergruppe Mittendrin. Die Frau mit dem roten Schal, die so nett lacht, ist Nicola Glück. Sie ist die künstlerische Leitung.
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Wir haben uns im Januar ein Theaterstück angesehen. Das war: HIN oder Weg – eine Pilgerreise der besonderen Art. Das spielen 14 Leute. Der Jüngste ist 16 Jahre, die älteste Schauspielerin ist schon 74. Die heißen „Mittendrin“. Sie treffen sich immer mittwochs. Dann wird geprobt. Manche haben eine Behinderung, mache haben keine Behinderung. Das ist Wurscht, hat Nicola Glück uns gesagt. Die ist die künstlerische Leitung. Blatt-Gold hat sie und die Gruppe vorher interviewt, vor dem Auftritt.

Blatt-Gold: Warum habt ihr euch das mit dem Pilgern ausgesucht?
Nicola Glück: Pilgern ist eine gute Sache, da können ganz viele verschiedene Leute hin, die eigentlich nichts wollen, außer ans Ziel zu kommen. Wie gehen Menschen mit so einem harten Weg über die Pyrenäen bis zu Santiago de la Compostela um? In diesem Stück hat jeder eine Geschichte, warum er auf diese Pilgerreise geht. Da passieren interessante Situationen und jeder kommt zu sich selbst.

Helma Schwenzer: Nicola hat uns Pilgern vorgeschlagen. Wir hätten dazu auch Nein sagen können. Die Rolle hat jede und jeder für sich selbst ausgesucht, die sind nicht vorgegeben. Und auch die Texte, hat jede und jeder für sich entwickelt.

Blatt-Gold: Ah, ihr macht eure Texte selbst!?
Damian von Zmuda: Der Maximilian hat mitgeschrieben bei den Proben, damit wir uns später daran erinnern.
Nicola Glück: Wenn wir übers Pilgern reden, sagt jeder, was ihm spontan dazu einfällt. Und Maximilian Hanka unser Regieassistent schreibt ganz schnell mit, wenn wir improvisieren. Die ersten Impulse sind meistens die besten. Dann haben wir die ganzen Ideen und los geht’s.

Blatt-Gold: Was ist das, improvisieren?
Nicola Glück: Wir stellen uns alle mal vor, draußen regnet‘s. Das Dach hat ein Loch und wir werden alle nass, es ist kalt und – zack – habt ihr alle improvisiert. So entstehen unsere Szenen.

Blatt-Gold: Macht ihr das immer so?
Nicola Glück: Bei ‚Romeo und Julia‘ haben wir uns einen Film dazu angeguckt. Diesmal gucken wir ihn vielleicht hinterher an, aber vielleicht auch nicht - wir sind eigentlich besser als die Filme!

Alle lachen
Blatt-Gold: Wie oft spielt ihr ein Stück?
Damian von Zmuda: So 4, 5mal.

Blatt-Gold: Habt ihr vor noch mehr Stücke zu spielen?
Damian von Zmuda: Wir haben noch mehrere Stücke ohne Ende. Kein Problem.

Nicola Glück: Unsere ersten Stücke waren ein buntes Sammelsurium aus vielen kleinen Szenen. Die habe ich mutwillig mit einem roten Faden grob zusammengestrickt. Da kamen lustige Stücke bei raus, bei denen jeder etwas spielen konnte. Vor drei Stücken habe ich gemerkt, dass die Gruppe soweit ist, dass sie einen Abend lang, eine Rolle spielen können. Das haben wir bei dem Stück „Kreuzfahrt ins Glück“ zum ersten Mal ausprobiert. Da ist eine skurrile Gruppe auf eine Kreuzfahrt gegangen, auf einen Felsen gelaufen und mussten im Rettungsboot miteinander klarkommen. Das hat so super geklappt, dass wir uns im letzten Jahr an einen Stoff gewagt, den jeder kennt, an Romeo und Julia.

Julian Göpel: Und da habe ich geweint. Aber nur so getan.
Nicola Glück: Genau, weil da nämlich etwas Schreckliches passiert ist – der Mord – und dann warst du derjenige, der am allertraurigsten und am stärksten betroffen davon war und hast eine super Trauerszene gespielt.

Blatt-Gold: Kann jeder von euch auf Kommando weinen?
Nicola Glück: Das können einige. Könnt ihr Blatt-Gold sagen, wie ihr das macht?

Helma Schwenzer: Ich stelle mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn mir etwas Trauriges passiert … dann klappt das mit dem Weinen.

Nicola Glück: Unsere Stücke haben ernste Momente, aber sind zum Teil super lustig. Bei uns gibt es auch immer was zu lachen!

Damian von Zmuda: Kann ich auch mal was sagen? Der uns die Stimme macht, das ist der Rolf.
Nicola Glück: Genau, wir haben den Erik bei uns, er ist Autist und kann nicht sprechen. Er kann aber unendlich tolle Texte schreiben. Auch heute werdet ihr Texte von Erik hören und es gibt ein kleines Textbuch, um seinen Text auch nochmal zu lesen, weil er so interessant ist. Da steckt so viel drin! Und weil der Erik eigentlich sprechen würde, sich mitteilen möchte, schreibt er die Texte und mein Mann spricht die Texte dann für ihn ein. Dann kommen die Texte, die der Erik geschrieben hat, vom Band. Die könnt ihr gleich in der Vorstellung hören.

Blatt-Gold: Und die anderen? Müsst ihr viel auswendig lernen?
Helma Schwenzer: Es ist ganz schön viel Text. Da sind wir immer froh, dass wir jemanden haben, der uns helfen kann, falls es nötig ist, wenn man hängen bleibt.
Sabine Siebel: Maximilian weiß immer genau, wo wir gerade im Text sind und der uns den Text zuflüstert, damit wir wissen, wie es weiter geht. Das nennt man soufflieren.
Nicola Glück: Max sitzt hinter der Bühne und passt genau auf. Und obwohl er die Gruppe nicht sieht, merkt er, wenn jemand einen Hänger hat.
Damian von Zmuda: Ich bin auch mal hängen geblieben. Da hab ich mal ein Blackout gehabt, gerade immer am Schluss vergesse ich die beste Szene. Dann ist es schwierig wieder reinzukommen.
Maximilian Hanka: Es ist gar nicht wichtig, jedes Wort genau zu kennen, sondern es reicht, wenn man es in den eigenen Worten wiedergeben kann.

Blatt-Gold: Habt ihr Lampenfieber?
Alle (durcheinander): Oh, ja… und wie. Marion ist unsere Lampenfieber-Königin!

Alle lachen. Erik macht Geräusche.

Marion Jurican: Ich muss dann ständig auf Toilette, obwohl ich gar nicht muss. Und ich habe Angst, dass ich zu leise spreche. Aber ein bisschen aufgeregt kann man ruhig sein. Dann ist man viel achtsamer und denkt immer schön an seinen Text.

Blatt-Gold: Was hilft euch gegen Lampenfieber?
Gudrun Weyer: Die Gruppe hilft einem gegen Lampenfieber. Ich habe das Gefühl, dass mich die anderen mittragen.
Nicola Glück: Die Gruppe ist ein suuuuper Team! Da hilft jeder jedem und jeder bringt seine Stärken ein. Es geht nicht darum, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Das uns gar kein Thema. Es geht immer um den Inhalt des Stückes, dass wir miteinander menschliche Themen wie Pilgern oder das Anstrengen beim Wandern, miteinander erleben. Und deshalb sind wir total inklusiv.

Blatt-Gold: Und wer hatte die Idee zum Theater dazu?
Nicola Glück: Das war der Verein mittendrin. Er wollte etwas anbieten, wo junge Erwachsene und Erwachsene zusammen Kultur und Freizeit inklusiv erleben können. Und wir wollten keine Gruppe, nur für Menschen mit Behinderung machen, sondern eine Gruppe, in der alle gleichberechtigt sind. Darum achten wir immer darauf, dass das Verhältnis stimmt und wir nicht plötzlich 12 Menschen mit Behinderung haben und nur noch einen ohne. Dass es inklusiv bleibt. Das ist die Idee. Und daraus ist die Theatergruppe entstanden.

Blatt-Gold: Und wenn einer mal Hilfe braucht?
Nicola Glück: Wenn einer Hilfe braucht, dann kriegt er sie. Mal ist es ein Zettel in der Hand, um den Text abzulesen, eine Tonbandeinspielung oder eine Rampe für die Darstellerin mit Rollstuhl oder ein Mikrofon, wenn jemand leise spricht – wir suchen eine Lösung dafür, damit sich jeder mit seinen Ideen und Möglichkeiten gleichberechtigt einbringen kann. Ich balanciere das immer nur aus.

Blatt-Gold: Sie haben gerade das Wort Behinderung angesprochen. Jeder Mensch ist gleich, egal wer er ist.
Nicola Glück: Genau, Behinderung ist Wurscht. Wir bemerken Behinderung nur bei der Organisation der Fahrten. Weil nicht jeder ein Auto hat, mit dem man irgendwo hinfahren kann. Da müssen wir Betreuer oder die Eltern fragen, wie er oder sie dahin kommt oder wieder weg. An dem Punkt haben wir das Thema Behinderung. In den Proben und Aufführungen gar nicht, da spielen wir Theater.

Blatt-Gold: Danke, dass ihr uns ein Interview gegeben habt. Jetzt freuen wir uns auf HIN oder WEG, eure Pilgerreise.

Das Interview haben geführt und anschließend bearbeitet: Christiane Becker, Ralf Fassbender, Yvonne Freiberg, Norbert Fuchs, Sascha Nowak, Jochen Rodenkirchen, Isabel Schatton und Pascal Stein mit Hilfe der Journalistin Anja Schimanke.

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