Vortrag von Sigmar Gabriel: „Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“

Kölner DOMFORUM | Foto: privat
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Im Kölner DOMFORUM (Domkloster 3, 50667 Köln) wurde am Dienstag, den 26.02.2019 ein Vortrag zu Sigmar Gabriels Buch „Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“ präsentiert. Die Veranstaltung des Katholischen Bildungswerks begann mit leichter Verspätung – quasi c. t. – vor restlos gefülltem Haus (200 Plätze).

Ein Lutheraner zu Gast im DOMFORUM

Der Referent des Abends, Sigmar Gabriel, wurde mit einigen Schlagworten – Überschriften von seiner Homepage aus der Rubrik „Persönliches“ – angekündigt. Gabriel bedankte sich als „gestandener Lutheraner“ (O-Ton) für die freundliche Begrüßung im DOMFORUM: „Das spricht für Ihre Liberalität.“ Und weiter: „Ich habe mir irgendwann sagen lassen, wir Lutheraner seien die Katholiken unter den Protestanten.“ Spätestens mit dieser Äußerung war das interkonfessionelle Eis gebrochen. Gabriel stellte den zitierten Überschriften seiner Homepage eine dort fehlende voran: „Die wichtigste Überschrift müsste eigentlich lauten, dass ich Vater dreier Töchter bin.“ Die älteste davon sei katholisch, die anderen beiden jedoch Lutheraner, erklärte Gabriel nicht ohne Humor und bezeichnete diese familiäre Konstellation als „gelebte Ökumene“. Damit fand er einen recht privaten Einstieg in den Abend, und dieser Ton, der sich auch in Gabriels Buch widerspiegelt, setzte sich den Abend hindurch fort.

Die Zukunft der Kinder und Kindeskinder

Ausgangspunkt des Abends war die Frage, unter welchen Bedingungen die Generationen der Kinder und Enkelkinder leben werden, wenn sie so alt sind wie der überwiegende Teil der anwesenden Zuhörer heute. In einem geschichtlichen Abriss erinnerte der bekannte Politiker daran, dass ein „Experiment Frieden“, das bei uns seit gut 70 Jahren gelingt, keine Selbstverständlichkeit ist. Er zeigte auf, dass Frauen hierzulande vor gar nicht langer Zeit noch die Erlaubnis des Ehemannes zum Ausüben einer Erwerbstätigkeit oder zum Eröffnen eines Bankkontos benötigten, was heute oft vergessen scheint, wenn Deutschland sich als liberales, fortschrittliches Land präsentiert. Gabriel konstatierte eine Verbesserung des Lebens in den letzten Jahrzehnten, die für die nächsten Generationen in Deutschland nicht mehr automatisch so sicher sei. Er betrachtete es als unsere Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, unter denen Leben gelingen kann.

Die Kehrseite des Fortschritts

Vorhandene Randbedingungen ändern sich heute in einem rasanten Tempo, vor allem im technologischen Bereich. Solche Veränderungen vollziehen sich laut Gabriel nicht mehr „im Takt der Generationen“, sondern innerhalb einer Generation, was zu großen Herausforderungen führt – Stichwort „Digitalisierung“. Wertverschiebungen schmälern die Bedeutung deutscher Produkte wie dem Auto und forcieren die Bedeutung der im digitalen Sektor führenden Nationen USA und China; die Wertschöpfung Deutschlands verlagert sich, und die Abhängigkeit von außen nimmt zu. Es gehe in diesem Jahrhundert um die technologische, wirtschaftliche, politische sowie militärische Vorherrschaft, die zunehmend von den „G 2“ China und USA eingenommen wird. „Unsere gesamten sozialen Sicherungssysteme stehen auf dem Prüfstand“, so Gabriel. Da diese Systeme lohnabhängig sind, hat es Konsequenzen, wenn eine immer geringere Zahl an regelmäßigen Lohnempfängern zur Verfügung steht.

Wie ein Experte kürzlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erläuterte, gilt ein qualifizierter Arbeitnehmer heute wegen des rasanten technischen Fortschritts bereits als ungelernt, wenn er drei Jahre nicht in seinem Beruf tätig war. Besonders betroffen von diesem Phänomen sind Frauen, die fürs Kind auf die Berufstätigkeit verzichtet haben. Hier muss meiner Meinung nach ein Umdenken bei den Arbeitgebern stattfinden, die motivierte Bewerber entsprechend schulen könnten.

Lösungswege für die aus der massiven Digitalisierung der Arbeitswelt resultierenden Probleme existieren laut Gabriel bisher nicht. „Wir reden ein bisschen viel in der Politik über das Heute und ein bisschen wenig über das, was morgen kommt“, mahnte er in diesem Kontext.

Das Verhältnis zu den USA

Für Sigmar Gabriel ist ein veränderter globaler Blickwinkel nicht erst durch Präsident Trump entstanden, denn bereits Obama bezeichnete Amerika als „pazifische Nation“. Bis dahin wurden die USA als „transatlantische Nation“ mit Blick auf Europa (und Teile Afrikas) betrachtet; die politische Bedeutung der Kontinente verschob sich nun aber.

Die deutsche Frage und die von uns Deutschen abweichende Wahrnehmung davon im Ausland nahm der Referent genauso in den Blick wie die politische Bedeutung Großbritanniens für die Wahrnehmung Europas als ernstzunehmende Macht. Er sprach den Inhalt nahezu aller Kapitel seines aktuellen Buches an. Auffällig war, dass er auf den Abschnitt „Entschlossener handeln: Abschiebung und Grenzschutz“ nicht einging. War dies ein diplomatisches Zugeständnis an den kirchlichen Gastgeber?

Gabriel zeigte sich in seinem Vortrag als besonnener Diplomat auf weltpolitischem Parkett. Er vertrat klare Positionen, jedoch auch eine für Verhandlungen notwendige Kompromissfähigkeit. Dass er in dieser Eigenschaft nach wie vor gefragt ist, konnte man am Donnerstag, 28.02.2019, im Bonner General-Anzeiger auf Seite 2 lesen („Gabriel, der Baumeister“ von Kristina Dunz und Holger Möhle, Berlin): Gabriel soll als Nachfolger von Friedrich Merz Vorsitzender der Atlantik-Brücke werden.

Humor und Mahnung

Der ehemalige Bundesumwelt-, Bundeswirtschafts- und Bundesaußenminister Gabriel schilderte im DOMFORUM komplexe innen- und außenpolitische Zusammenhänge plausibel, anschaulich und nicht ohne Humor. Gerade während der fünften Jahreszeit erinnerten die Pointen seines Vortrages immer wieder an eine politisch geprägte Büttenrede; das Kölner Publikum amüsierte sich. Wie auch in seinem Buch kennzeichnete er seine Aussagen explizit als persönliche Wahrnehmung und Einschätzung, was ihn sehr authentisch wirken ließ. Große Lösungsvorschläge für politische und gesellschaftliche Probleme zauberte er nicht aus dem Hut; eine seiner Kernaussagen lautete sinngemäß, dass Deutschland in Zukunft (auch unbequeme) Entscheidungen treffen müsse und sich nicht wie früher zurücklehnen könne; sonst sei der Zug abgefahren, und andere entscheiden – aber nicht unbedingt im Sinne Deutschlands.

In der Diskussion mit dem Publikum, die sich dem Vortrag anschloss, zeigte sich Gabriels Erfahrung im souveränen Umgang mit verschiedensten Fragen und Anmerkungen. Der Besuch der Veranstaltung erwies sich definitiv als lohnenswert.

Formale Defizite?

Die vom Herder-Verlag online zur Verfügung gestellte Leseprobe von „Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“ enthält leider Fehler, die nicht das beste Licht auf das verantwortliche Lektorat werfen. Bereits im Inhaltsverzeichnis (5. Kapitel: „Russland – Nachbar, Partner, Gegner?“) steht statt „Ein Waffenstillstand in der Ukraine als Voraussetzung“ das Wort „Waffenstilland“. Auf Seite 17 ist im 3. Absatz zu lesen: „Wenn der heutige US-Präsident Donald Trump Europa für eine antiamerikanische konspirative Vereinigung hält, kann man ihm nur empfehlen, den ‚Marshall-Raum‘ des Weißen Hauses besuchen würde.“ Es bleibt zu hoffen, dass die genannten Fehler in den käuflichen Ausgaben (Print/digital) nicht vorhanden oder zumindest die einzigen sind. Ein Überblick über die einzelnen Kapitel des Buches lässt erahnen, wie komplex und vernetzt unsere Welt ist; sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen, ist empfehlenswert.

Ein Überblick über den komplexen Inhalt des Buches:

1. Warum dieses Buch

2. Die Rückkehr der deutschen Frage
Deutschland, ein Sehnsuchtsort • Neue deutsche Sonderwege • Runter vom hohen Ross

3. Auf dem Weg in eine neue Welt
Ein schwarzer Juni für den Westen • Die weltpolitischen Spielregeln des 20. Jahrhunderts • Der neue Multilateralismus à la carte • Die Welt im Krisenmodus • Die Kehrseite der Globalisierung • EXKURS: Die Attraktivität der Autoritären • G0-Welt? Modelle einer neuen Ordnung • Comeback der alten Imperien • Der Westen zwischen Tatenlosigkeit und Misstrauen

4. Die Botschaft des Trumpismus
Trumps Amerika als schurkische Supermacht • Eine neue Lastenverteilung ist nötig • Es geht nicht mit Trump, aber auch nicht ohne die USA • Auf dem Weg in den Handelskrieg • Immer mehr Pulverfässer • Hoping for the best – preparing for the worst: Die transatlantischen Beziehungen neu gestalten

5. Russland – Nachbar, Partner, Gegner?
Kein Interesse am Status quo mehr • Am Anfang Chaos und Zerfall • Der Aufstieg des Wladimir Putin • Die erneute Entfremdung vom Westen • Scheinriese Russland? • Wieder Wandel durch Annäherung? • Ein Waffenstillstand in der Ukraine als Voraussetzung • Problematische Pipeline-Politik Europas • Politische Naivität vermeiden

6. Die chinesische Herausforderung
Chinas Strategie und die Planlosigkeit des Westens • Der chinesische Herrschaftsanspruch – nach außen und nach innen • Europäische Antworten?

7. Europa in einer unbequemen Welt
Die EU ohne Großbritannien • Die Gefahr des Scheiterns • Herausforderungen für unser Wohlstandsmodell • „Stronger Europe?“ • Die Einmaligkeit Europas erhalten – trotz
Zuwanderung • Mutige Visionen für Europa statt Nettozahler-Legenden • Stärken, was uns zusammenhält • Das vegetarische Europa in einer Welt voller Fleischfresser • Ein Europa als zivile Großmacht • Ein Europa mit strategischer Kultur • Ein krisenfestes und soziales Europa • Ein Europa mit Mütter- und Vaterländern • Politik und Werte in und für Europa

8. Der Kampf um Deutschlands Seele
Europas Stabilität hängt an Deutschlands Mitte • Deutschland hat zu viel Angst • Mehr Programme und weniger Gründe • Zivile Leitkultur • Zu Großem bereit sein, auch im Sozialen • Neue Ehrlichkeit in der Flüchtlingspolitik • Reizthema Rüstungsexporte • Alternde Gesellschaft und Zuwanderung • Entschlossener handeln: Abschiebung und  Grenzschutz • Deutschland muss robuster und eigenständiger werden • Deutschland muss mehr Außenpolitik wagen • Friedensdiplomatie und kritischer Patriotismus

9. Ausblick: Die europäische Antwort
Dank • Anmerkungen • Personenregister

Einige Daten zu Sigmar Gabriel:

  • Jahrgang 1959
  • Mitglied des Deutschen Bundestages
  • niedersächsischer Ministerpräsident (1999 - 2003)
  • Bundesumweltminister (2005 - 2009)
  • Bundeswirtschaftsminister (2013 - 2017)
  • Bundesaußenminister (2017-2018)
  • Vorsitzender der SPD (2009 - 2017)
  • Vizekanzler (2013 - 2018)

Sigmar Gabriel:
„Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“
Verlag Herder
1. Auflage 2018
Gebunden mit Schutzumschlag
(auch als E-Book erhältlich)
288 Seiten
ISBN: 978-3-451-38328-1
€ 22,-

Vorträge im Mai 2019 (Links zum Verlag Herder):

Vortrag von Sigmar GabrielZeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten
38154 Königslutter
Sa, 11.05.2019, 17:00 Uhr

Vortrag von Sigmar GabrielZeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten
94315 Straubing
Di, 21.05.2019, 20:00 Uhr

Link zum Mitschnitt des Vortrags im DOMFORUM auf domradio.de

Link zur Homepage von Sigmar Gabriel

(dcbp, 05.03.2019)

LeserReporter/in:

Damiana C. Bauer-Püschel aus Bonn

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